Das große Ganze betrachten

Der Aufbau resilienter Lieferketten und die Corona-Pandemie treiben die Nachfrage nach Retrofit-Lösungen in der Intralogistik. Wie sich Projekte erfolgreich durchführen lassen und wie lange die Vorlaufzeit sein sollte, erläutert Markus Kammerhofer, Head of Retrofit Sales bei der TGW Logistics Group, im Interview.
 Markus Kammerhofer leitet das Lifetime Services Competence Center Retrofit mit dem Ziel, das Thema Retrofit bei TGW weltweit auszubauen. Sein Fokus sind die Themen Software, Prozesse und Automatisierungstechnik.
Markus Kammerhofer leitet das Lifetime Services Competence Center Retrofit mit dem Ziel, das Thema Retrofit bei TGW weltweit auszubauen. Sein Fokus sind die Themen Software, Prozesse und Automatisierungstechnik. Bild: TGW Logistics Group GmbH

– Anlagen aus Materialien wie Stahl und Eisen sind langlebig. Ab welchem Zeitraum nach der Inbetriebnahme ist ein Retrofit sinnvoll?

Markus Kammerhofer: In der Tat sind Stahl und Eisen langlebig, manche Intralogistikanlagen laufen bereits seit Jahrzehnten. Beim Thema Retrofit geht es aber nicht in erster Linie darum, robuste Stahlkomponenten zu ersetzen. Die IT- und Steuerungssysteme auf den neuesten Stand zu bringen, das ist ein wichtiges Thema, das alle paar Jahre auf die Agenda gehört – vor allem, wenn Unternehmen wachsen. Im Prinzip werden mit einem Retrofit Materialflusssysteme modifiziert oder erweitert, damit ein Anlagenbetreiber optimal auf die Bedürfnisse seiner Kunden eingehen kann. Grundsätzlich würde ich das Thema in drei Unterpunkte gliedern.

– Wie lauten diese?

Erstens Anpassungen, die oft schon wenige Monate nach Inbetriebnahme des Gesamtsystems erfolgen sollen, um sich in einer schnelllebigen Zeit auf neue Marktanforderungen ausrichten zu können. Punkt zwei sind Erweiterungen, die vor allem bei Unternehmen mit hohen Wachstumsraten einige Jahre nach dem Go-Live anstehen. Punkt drei sind Modernisierungen der IT und Steuerung, die im Schnitt alle vier oder fünf Jahre nötig sind. Die Mechanik ist erst nach zehn oder mehr Jahren an der Reihe. Wenn die Software auf den aktuellen Stand der Technik gebracht wird, sollte man das bei der Steuerung auch gleich berücksichtigen.

– Wie entwickelt sich der Markt?

Retrofit ist ein Wachstumsmarkt. Bei TGW wickeln wir im in diesem Bereich heute jährlich fast fünfmal so viele Projekte ab wie noch vor zehn Jahren. Das liegt zum einen daran, dass wir in dieser Zeit viele neue Anlagen verkauft haben. Zum anderen erkennen Unternehmen zunehmend, dass sie im harten Wettbewerb nur dann die Nase vorne haben, wenn sie sich den Bedürfnissen ihrer Kunden perfekt anpassen. Die Anlagenbetreiber sehen auch, dass das Einhalten des Lieferversprechens und damit der Aufbau einer widerstandsfähigen Supply Chain immer wichtiger wird. In den Köpfen der Entscheider ist die sogenannte VUCA-Welt präsent, also Herausforderungen, die in Zusammenhang mit Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität stehen. Nicht zuletzt hat seit vergangenem Jahr die Corona-Pandemie den Markt angetrieben – beispielsweise wegen eines sprunghaften Anstiegs des E-Commerce in einigen Branchen.

– Warum ist ein Retrofit sinnvoll?

Früher gab es Anlagenbetreiber, die nach dem Motto „never touch a running system“ gehandelt haben. Aber heute weiß so gut wie jeder, dass man versuchen muss, das Maximale aus der Intralogistik herauszuholen. Ineffizienzen oder gar Stillstände können sich Unternehmen nicht leisten – und lange Durchlaufzeiten sind in der Welt der Hochleistungslogistik ein Wettbewerbsnachteil.

– Wann ist ein Modernisierungsprojekt unumgänglich?

Wer das Thema zu lange hinauszögert läuft Gefahr, dass Ersatzteile auslaufen oder Technologien nicht mehr verfügbar sind. Noch wichtiger ist aber das Wissen, das fehlt, weil beispielsweise IT- und Steuerungs-Spezialisten in den Ruhestand gehen. Viele IT-Fachleute verfügen heute über viel Expertise in NET, C#, JAVA oder SAP, können aber nicht mehr mit C++ oder C umgehen. Bei Retrofitprojekten setzen wir grundsätzlich auf die Einführung der neuesten Technologie, damit diese möglichst lange aktuell ist.

– Wie lange dauert ein Modernisierungsprojekt?

Im Prinzip gibt es zwei Möglichkeiten: den „Big Bang“ oder schrittweises Vorgehen. Letzteres wird immer wichtiger, weil Unternehmen das Risiko, dass beim Big Bang etwas schiefgeht, keinesfalls eingehen wollen. Zudem machen immer weniger Firmen Betriebsferien, die Anlagen müssen also so konstant wie möglich laufen. Wir haben Kunden, die an einem einzigen Tag mit einem Zentrallager mehrere Millionen Euro Umsatz generieren. Bei ihnen zählt jede Stunde, in der die Intralogistik stillsteht. Solche Unternehmen strecken eine Modernisierung über ein halbes Jahr oder länger und wir operieren quasi am offenen Herzen – aber sehr gut vorbereitet. Kleine Retrofits können an wenigen Wochenenden über die Bühne gehen.

– Was sind die wichtigsten Schritte in einem Projekt?

Exakte Analysen und eine perfekte, detaillierte Planung sind unabdingbar. Wir analysieren zunächst den Ist-Zustand der Technik, die Bedingungen vor Ort und schauen uns die Kundenanforderungen an. Die Erstellung eines Pflichtenheftes ist obligatorisch. Als Basis der aktuellen Prozessbeschreibung kann die Dokumentation der bestehenden Anlage genutzt werden. Wenn die Ablösung der Materialflusssteuerung ansteht, müssen auch die Schnittstellen zu den untergelagerten Systemen, speicherprogrammierbaren Steuerungen, kurz SPS, bedacht werden. In allen Fällen muss ein gut durchdachtes Umstellungskonzept ausgearbeitet werden, um die Warenverfügbarkeit sicherzustellen.

– Was sind die wichtigsten Vorteile von Retrofits?

Allein das Upgrade einer Software auf die aktuelle Technikstufe liefert einen Zuwachs an Funktionalitäten. Neue Lagerverwaltungssysteme ermöglichen eine bessere Konnektivität mit anderen Systemen, etwa Manufacturing Execution Systems, Supply Chain Management Systems und Enterprise Resource Planning Systems, sodass der Datenfluss durchgängiger wird. Ziel ist immer, dass Informationen entlang der Wertschöpfungskette in Echtzeit ausgetauscht werden können. Das ist die Voraussetzung, damit Unternehmen über Firmengrenzen hinweg ihre Beschaffung und Materialflüsse so effizient wie möglich steuern können. Immer öfter werden wir gefragt, ob sich autonome Technologien wie Fahrerlose Transportsysteme oder Roboter in die Gesamtanlage integrieren lassen. Sie schaffen mehr Flexibilität und eine leichtere Skalierbarkeit. Lagerverwaltungssysteme, die auf dem neuesten Stand der Technik sind, bieten auch die Möglichkeit einer Steuerung über Touchscreens. Die Bedienung ist intuitiv, die Einarbeitung für Mitarbeiter einfach. Das gilt auch für das „stufenlose“ Zoomen zur Anlagenvisualisierung. Nutzer können bis auf Sensorebene in die Systeme hineingehen, um beispielsweise defekte Komponenten zu lokalisieren. Generell sind auch Wartungsarbeiten nach Retrofits einfacher durchzuführen, weil in den Anlagen moderne Komponenten eingebaut wurden. Ein Thema wird aber immer wichtiger werden…

– Nämlich welches?

Dass die Wünsche der Endkunden schneller umgesetzt werden als der Wettbewerb dies kann. Denn wer die neuen Bedürfnisse nicht erfüllen kann, verliert Kunden. Ein Beispiel: Früher reichte einem Kunden eine Lieferung mit 100 Positionen. Heute will er den Auftrag mit dem gleichen Volumen an zehn verschiedene Orte geliefert bekommen – zu zehn unterschiedlichen Zeiten. Warum? Weil das auf den großen B2C-Plattformen Usus ist und der Kunde diese Vorteile und Flexibilität auch für sein Unternehmen nutzen möchte. Deshalb muss man als Anlagenbetreiber immer das große Ganze im Blick haben – und da rechnen sich Investitionen in ein Retrofit schnell.

– Wie nachhaltig ist ein Retrofit in Bezug auf Ressourcen- und Energieeinsparungen?

Generell sind Retrofits schon deshalb nachhaltige Investitionen, weil Firmen dadurch nicht nur die Lebensdauer ihrer Anlage verlängern, sondern auch Effizienzsteigerungen erzielen. Viele Unternehmen haben Programme aufgesetzt, wie sie ihre Emissionen in den kommenden Jahren senken wollen. Sie gehen mit Ressourcen bewusst um und nehmen jedes Glied in der Supply Chain unter die Lupe, um herauszufinden, wo Emissionseinsparungen möglich sind. Dabei gehen sie tief in die Strukturen. Und sie schätzen sehr, dass unsere neuesten Regalbediengeräte oder die KingDrive-Fördertechnik besonders energieeffizient sind.

– Was sind die wichtigsten Erfolgsfaktoren für ein Projekt?

Neben erfahrenen Projektmanagern, einem strukturierten Plan und einem Pflichtenheft gehört die Definition von Migrationsschritten sicher zu den Erfolgsfaktoren. Zusätzlich müssen die Mitarbeiter gut geschult werden, damit sie vor Ort mit Menschen zusammenarbeiten können, die den Herzschlag der Anlage spüren. Ein wichtiger Punkt ist auch, den richtigen Zeitpunkt für ein Retrofit zu finden. Sollten Unternehmen glauben, es reiche, darüber nachzudenken, wenn die Anlage am Anschlag läuft, unterliegen sie einem großen Irrtum. Man muss bedenken: Die Vorlaufzeit für ein Projekt beträgt mitunter bis zu einem Jahr. Wie gehen daher bereits dann auf den Kunden zu, wenn die Anlage zu 85 Prozent ausgelastet ist, damit wir gemeinsam eine Lösung entwickeln, die rechtzeitig den gewünschten Nutzen bringt. TGW achtet auch darauf, dass wir Retrofit-Spezialisten ausbilden, die umfassendes Know-how aufbauen. Zudem setzen wir auf Produkte, die speziell für Retrofits entwickelt wurden.

– Ab welcher Investitionssumme startet ein Retrofit?

Es gibt Projekte, die starten bei 50.000€, Großprojekte kosten zum Teil mehrere Millionen. Was man bedenken sollte: Wer beispielsweise am Tag mehrere Millionen Euro Umsatz mit einem Zentrallager macht, für den ist ein einziger Ausfalltag teurer als ein komplettes Retrofitprojekt.

– Herr Dr. Beinhofer, ich bedanke mich für das interessante Interview und wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg.

TGW Logistics Group GmbH

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